Schule und Verlierer

Problematik

"Man hat vergessen, daß die Einführung der Schulpflicht nicht als Bildungszwang gedacht war, sondern als eine Garantie für das Bildungsrecht. Man wollte mit der Schulpflicht die Kinder vor uneinsichtigen Eltern und Behörden in Schutz nehmen. Die Schule muß sich bewußt werden, daß sie ein Recht (das Recht auf Bildung) zu vertreten hat und nicht einen Zwang. Der Durchgefallene verliert sein Recht durch mangelnde Leistung. Die Leistung des Lehrers wird kaum eine Rolle spielen, weil die Mehrheit der Schüler in der Klasse verbleibt. Die Verbleibenden sind sein Alibi... Der Maßstab jedenfalls ist die Schule, nicht der Schüler. Deshalb kann der Schüler an der Schule scheitern, die Schule am Schüler nicht "

(Peter Bichsel, in: Die Schülerschule, Berlin 1970)

"Die Hauptschule umfaßt nur noch einen Anteil von etwa 20 Prozent eines Schülerjahrgangs. Sie ist eine 'Billigschule' für vorwiegend verhaltensaufällige und ausländische Kinder, kostet nur halb soviel wie eine Gesamtschule, hört zumeist ein Jahr früher auf, schafft miserable Ausbildungsplatzmöglichkeiten und stigmatisiert trotz hervorragender Lehrer viel zu früh zu einem mißlichen Restbewußtsein. Sie hat zwischen den Förderschulen einerseits, die ja überwiegend normalbegabte Ausländerkinder beherbergen, und den Real- und Gesamtschulen andererseits keine Existenzberechtigung mehr. Für die Hauptschulen setzen sich nur Eltern und Bildungspolitiker ein, deren Kinder selbst keine Hauptschule besuchen, das macht sie verdächtig."

(Peter Struck, in: Schul- und Erziehungsnotstand in Deutschland, Neuwied, 1992)

Wir hatten schon seit längerem vorgenommen, in der 94er Broschüre das Thema 'Schule' zu behandeln. Dafür gab und gibt es unsererseits verschiedenste Beweggründe, die wir im folgenden darlegen möchten.

Zum einen machen wir seit 1981 regelmäßig sogenannte H9-Seminare mit Hautschulabgängern, die jeweils 1 Woche dauern und auf denen wir einen relativ guten Einblick bekommen, wie die SchülerInnen ihre jeweilige Schul-und Lebenssituation meistern. In früheren Jahren haben wir von derartigen Seminaren drei pro Jahr gemacht; in letzter Zeit findet im Jahr nur noch eines statt. Dies lag bzw. liegt einerseits daran, daß zeitweilig Schulen geschlossen wurden und wir weniger Kinder im Stadtteil hatten (was allerdings heute wieder anders ist), aber andererseits auch daran, daß wir immer weniger Schulen bzw. LehrerInnen finden, die bereit sind, mit uns derartige Seminare zu machen. So manchem Schulpädagogen erscheint die Teilnahme an solchen fünftägigen Maßnahmen incl. Übernachtung offenbar zu aufreibend.

Uns ist bekannt, daß immer mehr LehrerInnen die Arbeit mit ihren 'schwierigen' oder 'verhaltensgestörten' Kids als enorme Belastung empfinden und deshalb nicht bereit sind, fünf volle Tage (und Nächte) mit diesen zu verbringen. Dies, obwohl sie hier immerhin die Unterstützung von 3 StraßensozialarbeiterInnen hätten, die auch für die Gestaltung der Arbeitseinheiten und der Freizeitphasen die primäre Verantwortung tragen.Wir finden diese Entwicklung bedauerlich, weil gerade heute, wo Sozialisationsdefizite und psychische Defekte bei Kindern und Jugendlichen in einem erschreckenden Umfang zu konstatieren sind, genau jene pädagogische Beziehungsarbeit, die in begrenztem Umfang auch persönliche Bindungen gestattet, von außerordentlicher Bedeutung ist, da sie bisweilen durchaus heilsame erzieherische Effekte erzielen kann.

Wir wissen zwar, daß die Institution Schule sich zunächst ganz generell nicht als eine therapeutische Einrichtung betrachtet, dennoch wird ja, will man Ausgrenzungen vermeiden, auch der 'gestörte' Schüler seinen Platz in der Schule finden müssen.

Und nicht selten bewirkt das 'menschliche Ernstnehmen' eines 'Problemschülers' mehr als das Verweisen an den Schulpsychologen. Doch hierzu an anderer Stelle mehr.

"Ich habe auch Elternabende in der Schule besucht, weil die Eltern meiner Jugendlichen das oft nicht hinkriegen, da hinzugehen."

Margrit Lubetzki, seit l3 Jahren Jugendsozialarbeiterin in der Kirchengemeinde Großlohe.

In Bezug auf unsere H9-Seminare, die sich neben verschiedenen Freizeitangeboten inhaltlich mit der Sexualität von Jugendlichen, ihren individuellen Lebensentwürfen, ihren beruflichen Wünschen, ihren Freizeitmöglichkeiten im Stadtteil und verschiedenen Problemkomplexen (z.B. Drogen, Gewalt, Rassismus u.ä.m.) befassen, haben wir von den SchülerInnen jedenfalls stets positive Resonanz erfahren (viele wären gerne ein zweites mal mit uns auf so ein Seminar gefahren).

Im übrigen hat auch unsere kürzlich in einer H9-Klasse durchgeführte Fragebogenaktion (deren Ergebnisse wir hier noch detaillierter vorstellen werden) ergeben, daß ausnahmslos alle Befragten 'Klassenfahrten' als äußerst positiv betrachten, da sie für den menschlichen Zusammenhalt der Klasse sehr förderlich seien und man sich auf andere Weise als in der Schule begegnen könne. Wir gehen deshalb schon lange davon aus, daß alle Maßnahmen, in deren Verlauf es gelingt, Lernprozesse und Erlebsniselemente miteinander zu verknüpfen, bei den SchülerInnen hohe Akzeptanz finden.

Aber vielleicht noch ein paar Sätze zu der Frage, warum wir als Straßensozialarbeiterprojekt überhaupt solche Hauptschülerseminare durchführen:

"Wir stellen uns vor, daß mit einem 5-tägigen Semtnar in einem Freizeitheim unter außerschulischen Bedingungen, Ansätze eines Vertrauensverhältnisses zwischen den jugendlichen Schülern und den Straßensozialarbeitern hergestellt werden können. Da sich unsere Arbeit als Straßensozialarbeiter hauptsächlich in den Nachmittags- bzw. Abendstunden im Freizeitsektor der Jugendlichen abspielt, sollen die Seminare u.a. dazu dienen, anschließend in diesem Bereich besser auf die Jugendlichen zugehen zu können. Da die Jugendlichen nach dem Verlassen der Schule in der Regel mit ihren Problemen allein auf sich gestellt sind, bietet sich durch das gegenseitige Kennenlernen die Möglichkeit, in Notlagen ggf. auf uns zurückgreifen zu können. "

(Seminarkonzept der Strasos von 1980)

Einerseits war also beabsichtigt, für unsere Sozialarbeit auf den Straßen, den Plätzen und offenen Einrichtungen eine minimale emotionale Basis zu schaffen; gleichzeitig war und ist es allerdings auch Ziel, unser berufliches Engagement jenen Jugendlichen zugute kommen zu lassen, die den weniger privilegierten Milieus entstammen - in diesem Fall also den Hauptschülern.

Zum Thema 'Schule' wollen wir uns aber auch deshalb äußern, weil unsere H-Schüler, denen wir in unserer Arbeit vorort begegnen, meist keine Elternlobby besitzen, welche ihre Interessen und Bedürfnisse angemessen vertreten könnte. Häufig genug sind Eltern bzw. alleinerziehende Mütter mit der Bewältigung ihrer gesamten Lebenssituation derart gefordert, daß für eine umfassende Erziehung der Kinder immer weniger Zeit und Kraft bleibt. Damit kommt dann aber auch in aller Regel die angemessene Begleitung der schulischen Lernerfahrungen der Kinder zu kurz. Bekannt ist, daß Eltern aus den unteren Schichten auf Elternabenden relativ selten vertreten sind. Bekannt ist auch, daß Kinder immer häufiger bis abends spät sich selbst überlassen sind und daß manchmal sowohl die Frage der Ernährung als auch der adäquaten Bekleidung nicht durch elterliche Fürsorge geregelt wird - von anderen Gefahren und Gefährdungen einmal ganz abgesehen (Drogen, Krimininalität etc.). Grundsätzlich kann man feststellen, daß zwischenzeitlich, nicht zuletzt durch die Etablierung neuer Strukturen 'reproduktiver' Armut, verschiedenste Varianten von Verwahrlosung in den Kinder- und Jugendlichenmilieus der sozialen Brennpunkte entstanden sind, die mit einem graduellen Verfall sozialer Werte einhergehen. Konkret kann sich dies sowohl in Konzentrationsmängeln, Lernschwächen oder Kontaktschwierigkeiten äußern, aber auch in erhöhter Gewaltbereitschaft, übermäßigem Alkoholkonsum oder verstärkter Beschaffungskriminalität seinen Ausdruck finden. Tatsache ist, daß diese Entwicklungen innerhalb der Stadtteile selbstverständlich auch in den Sektor Schule hineinwirken und dort zur Kenntnis genommen werden müssen.

In diesem Zusammenhang hat sich - nicht nur aus unserer Sicht - gerade die Hauptschule zur Restschule für 'Verhaltensauffällige' entwickelt, die den aktuellen Notlagen und Wünschen von SchülerInnen oft nicht mehr gerecht wird.

Dabei übersehen wir selbstverständlich nicht das menschliche Engagement einzelner LehrerInnen, doch bei einigen Pädagogen scheint der Trend - im Einklang mit entsprechenden gesamtgesellschaftlichen Tendenzen - immer stärker eher in Richtung 'Desinteresse', 'Distanziertheit' oder 'Rückzug' zu gehen. Damit soll nicht verleugnet werden, daß der berufliche Arbeitsalltag von Schulpädagogen erheblich schwieriger geworden ist.

Dennoch stellen wir immer wieder fest, daß mit einem grundsätzlichen guten Willen und positivem menschlichem Interesse auch unsere 'gestörtesten' Kids durchaus ansprechbar sind. Selbstverständlich wissen auch wir, daß eine 'chaotische' Klasse nicht leicht zu unterrichten ist.

"Das auch für mich überraschende bis zum heutigen Tage ist, daß auf dem flachen Land die Hauptschule noch immerdie intakteste Schulform ist. Von daher ist Krise der Hauptschule im Grunde nur eine Krise in den Großstädten. "

(Prof.Dr. WaIter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

Doch wenn die Lage heute an den Schulen - insbesondere in denen der sozialen Brennpunkte - so desolat ist, wie sie sich schon seit geraumer Zeit darstellt, dann müssen natürlich auch LehrerInnen sich für solche Arbeitsbedingungen engagieren, die sowohl ihnen als auch den Schülern den Spaß an der Schule wieder ermöglichen.

Dafür ist es allerdings erforderlich, eine Diskussion über schulreformerische Ideen zu führen, an der neben Eltern und Lehrern selbstverständlich auch die Schüler beteiligt werden sollten. Wie eine Schule aussehen könnte, die den Problemen und Bedürfnislagen der heutigen Schülergeneration gerecht wird, soll im weiteren Textverlauf noch seine Darstellung finden. Dabei werden für uns die Belange von Kindern und Jugendlichen aus den sozialen Krisenmilieus besondere Bedeutung haben.

Einige Gedanken zur 'Schule der Zukunft' 

"Lehrer sollte nur werden, wer kleine Menschen mag. "

(Conny Fiedler, Sozialarbeiterin

Wir werden im Folgenden in nicht systematischer Form einige Gedanken und Vorschläge vorstellen, die im Rahmen unserer Arbeit sowie in Gesprächen mit entsprechenden Fachleuten entstanden sind.Insbesondere der fachliche Austausch mit Prof. Dr. Walter Bärsch, dessen Anregungen in diesem Text vielfältigen Niederschlag gefunden haben,sowie Gesprächskontakte mit Dr. Dirk Plickat und Prof. Peter Struck (beide Uni Hamburg) haben zur Erweiterung unseres Kenntnishorizonts beigetragen. Selbstverständlich sind viele der hier gemachten Vorschläge nicht neu. Dennoch sind wir der Meinung, daß der kritische Blick von außen - in diesem Fall aus der Sicht von Sozialarbeitern des Stadtteiles - durchaus legitim ist und auch für die Schule ein hilfreicher Spiegel sein kann.

Schule muß Schule für alle Kinder sein 

Wir gehen davon aus, daß die Schule grundsätzlich für jedes Kind da sein muß, egal in welcher Verfassung es sich befindet oder wie verhaltensgestört es auch sein mag. Dennoch kann Schule in einer Zeit, in der viele Kids problematischer geworden sind und viele familiäre Sozialisationsdefizite mit in die Schule bringen, nicht mehr so wie bisher funktionieren.

"Seit einigen Jahren gibt es das Problem, daß manche Kinder mit Hunger in die Schule kommen. In einer Diskussion mit Lehrern habe ich deshalb mal gesagt: 'Na dann kauft doch 20 Holzbretter, Messer und 'n paar Brötchen und macht mit denen erstmal Frühstück!' Da haben die mich angeguckt und gesagt: 'Was soll ich machen? Ich bin Lehrer, ich bin kein Koch !' "

(Ernie Hellmann, Straßensozialarbeiter in Rahlstedt)

Das schulpädagogische System wird deshalb einerseits eine verbesserte Grundausstattung - insbesondere in den sozialen Brennpunkten - erhalten müssen, wird aber auch seine Selbstdefinition zu korrigieren haben. Denn die Systemschule, die als Eingangsvoraussetzung die sogenannte Schulreife von Kindern vorschreibt, wird der Tatsache Rechnung tragen müssen, daß diese Reifekriterien nicht von allen Kindern aufgrund verschiedenster Entwicklungsstörungen erfüllt werden können.

"Also ich gehe gelegentlich in die Kollegien mit dem Appell: 'Kolleginnen und Kollegen, begreift, so sehr es wichtig ist, daß ihr Didaktiker und Methodiker seid, viel wichtiger ist, daß ihr den Kindern Mitmensch seid, das stehr an erster Stelle.' Ich erinnere manchmal an Martin Buber, der davon gesprochen hat, daß nur über das 'dialogische Prinzip' im Grunde die menschliche Nähe hergestellt wird und ohne menschliche Nähe läuft nichts heutzutage, mehr denn je. Denn viele Kinder erleben ja die menschliche Nähe in ihrer Familie auch nicht mehr."

(Prof Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

Leider erleben wir durchaus, daß Kinder bereits wenige Wochen nach der Einschulung wieder ausgeschult werden, weil sie für nicht beschulbar gehalten werden. Selbst, wenn es im Einzelfall sinnvoll sein mag, ein Kind statt mit 6 Jahren erst mit 7 einzuschulen, sollte man doch vermeiden, die Kinder bereits in frühsten Jahren vom Schulbetrieb auszugrenzen und sie damit zu stigmatisieren. Wir glauben deshalb, wie Dr. Bärsch es im Gespräch mit uns (am 9.6.93) formuliert hat, daß die Schule sozialpädagogischer werden und in ihrer Ausstattung den vielfältigen Problemlagen der Kinder von Heute entsprechen muß. Dabei sollten das emotionale Angenommensein der Kinder, handlungs-und erlebnisorientiertes Lernen sowie praktische Bezüge zur persönlichen, ökologischen und berufiichen Lebensrealität bei der Gestaltung des Schulalltages im Vordergrund stehen.

Viele Schulkinder brauchen 'bindungsfähige' Pädagogen 

Hinzu kommt, daß gerade für unsere Problemkinder, die häufig mit einem eklatanten Mangel an liebe- und verständnisvoller Zuwendung der Eltern groß werden, die Klassenlehrerorientierung enorm wichtig ist. Ein weitverzeigtes Fachlehrersystem, in dem die kontinuierlichen persönlichen Bezüge oft fehlen, trägt hier zu weiterer Verunsicherung und Desorientierung bei. Klassenlehrer mit Mehrfächerqualifikation sind deshalb gerade für die Zielgruppe der 'Problemkinder' eindeutig zu bevorzugen.

Offenbar hat sich in diesem Zusammenhang auch ein Ansatz bewährt, welcher den stabilen personalen Bezug durch einen Kleinverbund von 3 Lehrern, die sich verpflichten, ein und dieselbe Klasse mindestens 3 Jahre zu unterrichten ('pädagogische Familien'), sicherstellen soll.

Es gibt natürlich auch Konzepte, die weitgreifender und damit auch teurer sind. Zu nennen wäre da u.a. das 'team teaching', welches bereits im Rahmen von Integrationsklassen zur Anwendung kommt. Hierbei unterrichten ein Lehrer und ein Sozialpädagoge gemeinsam eine Klasse. In der Tat könnten solche Ansätze ebenso geeignet sein, Schule kontinuierlich auch für jene zu ermöglichen, die bisher aus der Regelschule herausfallen. Die alte Arbeitsteilung, welche bisher in etwa so vonstatten ging, daß die Jugendhilfe diejenigen, die das Schulsystem als 'Gescheiterte' und 'Gestörte' verließen, auffing, wird in der Zukunft schon deshalb nicht mehr funktionieren, weil es von dieser Problemgruppe zu viele geben wird. Wenn Schule sich in dieser Hinsicht nicht reformiert und ihren integrativ-erzieherischen Auftrag nicht ernster als bisher nimmt, wird sich in dieser Gesellschaft ein (weiteres) Randgruppenproblem von nicht unerheblichem Ausmaß entwickeln.

Die Schule muß sich am ganzen Menschen orientieren 

Ganz grundsätzlich ist es aber wichtig, daß die 'Menschenorientierung' (Bärsch) im Verhältnis zur Wissenschaftsorientierung in der Schule der Zukunft größeres Gewicht erhält. Denn vergessen werden sollte nicht, daß auch das 'schulische Menschenbild' vom 'Nürnberger Trichter', der immer größere Mengen an Bildungswissen aufzunehmen hat, Störungen bei den Kindern erzeugt. Aber gerade die Kids von heute müssen auch mal die Chance haben, von sich erzählen zu können. Doch das geht in der Schule zur Zeit im Prinzip nicht. Schule wird in dieser Hinsicht deshalb kommunikationsfreundlicher werden müssen.

"Die Schule ist eine Institution, die Rollen verteilt. Die eine Rolle ist die Lehrerrolle, die andere Rolle ist die Schülerrolle. In beiden Fällen ist es eine Reduzierung des gesamten Menschen. Der Lehrer ist nicht identisch mit dem ganzen Menschen, der Schüler ist noch lange nicht identisch mit dem ganzen Menschen. Ich habe manchmal provozierend gesagt: Wenn der ganze Mensch in die Schule geht, hat er alle Chancen, für verhaltensgestört erklärt zu werden. Wenn er aIs ganzer Mensch reinkommt, muß er ganz bestimmte Merkmale vor der Schule stehenlassen und betritt sie dann als Rollenträger. Viele Lehrer haben sich so an ihre Rolle gewöhnt, daß sie gar nicht mehr auf die Idee kommen, über dieses Rollenschema - das ja eine Reduzierung ist - hinnuszudenken."

(Prof.Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

Ebenso wird die Freiheit des Lernens künftig eine größere Rolle spielen müssen. Schließlich kamen bisher Mitgestaltung und Mitbestimmung im Unterricht regelhaft überhaupt nicht vor (abgesehen vielleicht von einzelnen Projekten). Die Kinder und Jugendlichen von heute haben aber mehr zu sagen und beizusteuern, als manch Erwachsener sich vorstellen kann. Dies hat im übrigen auch unsere Fragebogenaktion ergeben. Wenn aber die Möglichkeiten der Selbstorganisation von SchülerInnen innerhalb der Schulräume so beschränkt ist, wie dies momentan der Fall ist, wo beispielsweise eine 9. Klasse noch nicht einmal ein Abschlußfest organisieren kann, weil das dem Hausmeister nicht paßt, dann wird man sich nicht wundern müssen, wenn die Schule auch deswegen zunehmend an Attraktivität verliert. Ähnlich wie bei den Jugendhäusern ist doch auch die Schule für die Kids schließlich eine Art zweites Zuhause, welches allerdings in ein Herrschaftssystem eingebettet ist, daß den Schülern - um die es im Rahmen des gesamten Schulwesens ja eigentlich geht - bedauerlicherweise kaum Gestaltungsspielräume läßt. In diesem Sinne ist Schule undemokratisch. Daß ohne ernst gemeinte Formen der Beteiligung Schüler auch so etwas wie Verantwortung kaum erlernen können, sollte dabei ebenfalls bedacht werden.

Insbesondere Schulen in den sozialen Krisenmilieus sollten bei den Kindern in den ersten Jahren möglichst wenig Streß durch überzogene Bildungsansprüche erzeugen. Walter Bärsch meinte deshalb in unserem Fachgespräch:

"Das erste Schuljahr sollte das Schuljahr sein, in dem man lernt, wie man miteinander lebt."

Es sollte also nicht immer gleich um Lesen, Rechnen und Schreiben gehen. Natürlich gibt es hier nicht wenige Eltern, die gegenteiligen Druck auf die Lehrer ausüben, weil sie Angst haben, daß ihre Kinder nicht genug lernen. Schulpädagogen müßten allerdings den Mut aufbringen, im Interesse der Kinder solchen überfordernden Erwartungen entgegenzutreten

Die Fernsehkultur entläßt ihre Kinder 

Unter Pädagogen verschiedenster Fachrichtungen wird häufig bedauert, daß die Kinder von heute zuviel fernsehen würden. Dabei ist, wie man aus Untersuchungen weiß, der Fernsehkonsum in den unteren Schichten der Bevölkerung noch um einiges ausgesprägter als anderswo. So sehr man solche Tendenzen im Sinne von Verarmung menschlichen Erlebens auch bedauern kann, wird man gleichzeitig fragen müssen - zumal, wenn man davon ausgeht, daß solche Kulturgewohnheiten zunächst einmal nur schwer zu verändern sind - wie denn z.B. Lehrer im Schulalltag auf solche Entwicklungen reagieren können.

"Während die Pubertät der Jugendlichen sich nach vorne verschoben hat, verlagerte sich der Zeitpunkt des sozialen Errvachsenwerdens immer weiter nach hinten. Diese Kluft verstärkt bei vielen Jugendlichen das Gefühl, noch nicht verantwortlich tätig sein zu können, obwohl die eigenen Kräfte dies vehement verlangen. Die Zahl der Schulmüden, die sich in der Lernschule abquälen und sie Ietztlich ohne Abschluß verlassen, nahm in den Ietzten Jahren alarmierend zu."

(Rainer Werner in der TAZ v. 10.5.93)

Zum einen wird man davon ausgehen müssen, daß es bei Kindern auch positive Fernseherlebnisse gibt, die sowohl unterhaltsam als auch identitätsfördernd sind. Zum anderen ist natürlich trotzdem wahr, daß Eltern sich immer weniger mit ihren Kindern beschäftigen und das Fernsehen von daher häufig als Beziehungs- und Liebesersatz dient. Für den Schulbereich scheint uns wichtig, daß dort mit den SchülerInnen die Diskussion darüber geführt wird, welche Wert- und Sinnbilder das Medium Fernsehen transportiert, um hier gewisse Korrekturen zu ermöglichen.

Walter Bärsch meint in diesem Zusammenhang, daß das Fernsehen bei den Kindern, bedingt durch die schnelle Bildfolge, die Grobwahrnehmung einseitig fördern würde und die Schule deshalb stärker die Feinwahrnehmung trainieren sollte. Denn die in rascher Folge stattfindenden Bildsequenzen begünstigen eine Beobachtungsform, welche oft eine innere Beteiligung nur in beschränkter Form zuläßt. Im Rahmen des Trainings der Feinwahrnehmung soll dagegen durch die konzentrierte und detaillierte Beobachtung über längere Zeiträume, das emotionale Einlassen auf Situationen, Menschen, und Gegenstände, die eine differenzierte Bewertung überhaupt erst möglich machen, gefördert werden.

Verschiedenste Wahrnehmungsbereiche sind bei den Kindern heute offenbar unterentwickelt, was allerdings nicht nur mit der Dauer des Fernsehkonsums zu tun hat, sondern auch mit dem Mangel an Spiel- und Erlebnisräumen, die den Kindern in den Großstädten infolge größerer Bau- und Verkehrsdichte immer weniger zur Verfügung stehen.

Auch in diesem Zusammenhang sei noch einmal darauf hingewiesen, daß vielfältigste Maßnahmen sowohl in der Jugendhilfe, aber auch im Schulsektor, stärker ausgebaut werden sollten. Denn viele Familien aus unseren umliegenden Stadtteilen können sich schon lange keinen Urlaub mehr leisten. Hier gibt es jede Menge Kinder, die seit Jahren nicht mehr aus der Stadt rausgekommen sind, die aber dringend auch mal Erholung vom Streß der Familie benötigen und die zur mentalen Vitalisierung unbedingt Berührungen mit all dem Lebendigen, was die Natur zu bieten hat, brauchen.

Die Schüler leiden an ihrem 'Nicht-Können' 

Nicht wenige Jugendliche verlassen die Hauptschule, ohne die deutsche Sprache beim Lesen oder Schreiben richtig wiedergeben zu können. Das Problem der Lese- und Rechtschreibschwäche hat seine Ursprünge aber bereits in den frühen Jahren von Schulkindernund müßte bereits in der grundschule angemessen bearbeitet werden. Dies scheint allerdings auch wegen der 'methodischen Untüchtigkeit der Lehrkräfte' (Bärsch) kaum zu gelingen. Offenbar ist die Ausbildung der Lehrer in dieser Hinsicht sehr mangelhaft.

Viele Pädagogikstudenten (Lehramt) haben während ihrer gesamten Ausbildung nur eine einzige Vorlesung zur Lese- und Rechtschreibschwäche absolvieren müssen. Dies ist als qualifikatorische Basis für den heutigen Schulalltag mit ihren vielfältigen Lernschwächen von Schülern ganz offensichtlich völlig unzureichend.

Sehr einleuchtend fanden wir in unserem Austausch mit Walter Bärsch seine These, daß viele Kinder an sich selbst leiden, weil sie Nicht-Könner sind. Hier sei aus seiner Sicht nicht so sehr der Schulpsychologe gefragt, wenngleich psychische Störungen vorliegen mögen, vielmehr sei eine besondere Pädagogik erforderlich, welche die Kinder zu Könnern macht. Diesem Standpunkt liegt keine Psychologiefeindlichkeit zugrunde, sondern die schlichte Erkenntnis, daß pädagogische Probleme nicht in erster Linie therapeutisch zu lösen sind. Allerdings ist dafür notwendig, daß Lehrer die Möglichkeit erhalten (oder sich nehmen!), Lernanforderungen, je nach individueller Problemlage, flexibel modifizieren zu können.

"Ich habe auf meinem Weg die Verhaltensstörungen in meiner Klasse total auf Null gebracht, denn sie fingen plötzlich wieder an, Spaß an der Schule zu haben, weil sie sich als Könner erlebten. Ich habe das ganz primitiv gemacht, wenn einer überhaupt nur noch hinschmierte und nichts mehr machte, dann habe ich dem gesagt: 'Jetzt wollen wir doch mal den Versuch machen, daß man deine Schrift so hinkriegt, daß ein anderer sie lesen kann; sie muß ja nicht schön aussehen, aber sie muß ja leserlich werden. Und dies machen wir Zug um Zug. Ich habe dir hier ein Heft extra für dich herausgesucht. In diesem Heft gibst du dir Mühe nur so zu schreiben, daß man es lesen kann. Sollte das nicht mehr möglich sein, hörst du mitten im Wort auf. Aber in diesem Buch stehen gewissermaßen nur Dinge, mit denen du zufrieden sein kannst, wenn dies nicht mehr zu schaffen ist, machst du Schluß. Das wird also dein Buch der guten Leistungen auf dem Gebiet.' Das haben die perfekt gemacht und dann haben sie erst ein Wort hingeschrieben, Scheiße, habe keine Lust mehr, ja in Ordnung; aber das Wort, das steht, und dies haben sie dann vorführen können. Das habe ich schon geschafft, das kann ich. Wenn sie mal wieder Bock drauf hatten, haben sie wieder 3 Wörter hinterher geschrieben. So haben sie sich 3, 4, 5 Seiten erarbeitet und waren ganz froh, daß sie plötzlich so ein Buch selbst geschrieben haben. Auf diese Weise erlebten sie sich als Menschen, die tatsächlich was können und ich habe das nicht über den therapeutischen Weg geschafft sondern indem ich ihnen geholfen habe, Könner zu werden. ... Manchen habe ich außerdem gesagt: 'Ihr seid nun 3 mal sitzengeblieben, also die Chance, daß ihr normal entlassen werdet, die gibt es gar nicht mehr. Aber ich biete euch die Möglichkeit an, daß ich euch Jahr um Jahr des Sitzenbleibens wieder zurückschenke. Ich kann das aber nicht nur schenken, ihr müßt auch was bringen. Wir helfen euch dabei.' Was glauben sie, wie die angepackt haben, die verhaltensgestörten Kinder, die hatten jetzt plötzlich eine Chance, 1 Jahr, ja manche haben sogar 3 Jahre von mir zurückgeschenkt bekommen. Fragen sie mich nicht, ob ich das schulrechtlich machen durfte."

(Prof. Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

In diesem Zusammenhang muß sich das gesamte Schulwesen vor allem von der Vorstellung lösen, daß sogenannte Versager normal sind, weil es gewissermaßen immer Versager geben wird. Denn eine solche Sichtweise führt fast zwangsläufig zu der Haltung, daß die Schule für das Versagen des Versagers ganz prinzipiell nicht verantwortlich ist. Manche unserer BerufskollegInnen gehen sogar davon aus, daß das System Schule durchaus bewußt und mit subtiler Absicht sogenannte Versager produziert, weil es ein entsprechendes gesellschaftliches Interesse z.B. an minderqualifizierten Hilfskräften gibt. Doch hierzu im nächsten Kapitel mehr.

Auch die Schule erzeugt Gewalt 

"Häufig müssen wir den Schulstreß der Kinder aushalten, weil sie zu uns in den Frauen- und Mädchentreff kommen, nachdem sie bis zu 5 Stunden in der Schule waren, und sie tragen die Gewalt, die auch dort in der Schule entsteht, in unsere Einrichtung."

(Marion Gaebler, Sozialarbeiterin im Frauen- und Mädchentreff Großlohe)

Wir wollen hier nicht die gesamte 'Gewaltdiskussion', die insbesondere in den letzten zwei Jahren - auch im Hinblick auf gewalttätige Konflikte innerhalb von Schulen - stattfand, aufrollen. Wir wollen hier lediglich einige Aspekte beleuchten, die bei der Ursachenbeschreibung oft unterrepräsentiert sind.

Selbstverständlich kann man sich darauf verständigen, daß die zunehmend 'asoziale Sozialisierung', die dazu führt, daß jeder nur noch seinen individuellen Vorteil verfolgt (vergl. A. Gorz, Und jetzt wohin ? Rotbuch, 1991, S. 45), die Brutalisierung, welche im Videozeitalter reizsteigernd den Mehrkonsum von Filmen befördert sowie die psychische und körperliche Gewalt, die den Kindern in vielen Elternhäusern angetan wird, als Hauptursachen für das Anwachsen verschiedenster Gewaltpotentiale und -phänomene - insbesondere bei Kindern und Jugendlichen - zu benennen. Gleichwohl sind innerhalb des Systems Schule sehr wohl Anlässe und Hintergründe vorzufinden, die bei der Katalogisierung struktureller Gewaltursachen nicht fehlen dürfen.

"Die Grundgeste 'Gewalt' ist, so lange es die Menschen gibt auf dieser Welt, eine Grundgeste geblieben. Wir haben für keine Geste mehr Geld ausgegeben und mehrgeistige Ressourcen eingesetzt als für die Verwirklichung dieser Grundgeste 'Gewalt'. Nun sage ich mal dagegen, haben wir uns genauso angestrengt, um jeden Menschen auf dieser Erde zu ernähren ? Nein. Und jetzt gucken Sie sich die Familien an, 70 - 80% aller Eltern schlagen ihre Kinder aus erzieherischen Gründen und es ist höchstrichterliche Entscheidung, daß dazu gelegentlich auch harte Gegenstände verwendet werden dürfen. Ich will sagen, diese Allgegenwärtigkeit von Gewalt ist überall sichtbar."

(Prof. Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

Selbstverständlich ist Bildung, zumal, wenn sie in stark formalisierter Weise und unfreiwillig stattfindet, genauso Zwang, wie sie auch Privileg sein kann. Bereits die Anwesenheitspflicht ist ja ein starker Eingriff in die persönliche Freiheit von Kindern und Jugendlichen. Solange Schule Spaß macht und Erfolg beschert, mag das nicht weiter problematisch sein. Ist aber der Spaß am Lernen zeitweilig oder dauerhaft verebbt, sinkt auch die Lust am Schulbesuch. Sogenanntes Schwänzen bzw. Schulabbrüche sind die Folge. Auch solche Ereignisse nehmen ganz offensichtlich zu.

Viele Kinder erleben auch die Art und Weise des Lernens in langwährender sitzender Haltung mit starker Bewegungseinschränkung und überwiegend in kognitiver Form als unangenehm und demotivierend, haben aber keine Chance, dagegen in konstruktiver Weise zu opponieren. Auch hieran kann man die sublime Form struktureller Gewalt, die unseren traditionellen Bildungseinrichtungen innewohnt, erkennen. Die Schule ermöglicht also insgesamt zu wenig Aktivität und zu wenig körperliche Bewegung. Sie diszipliniert, ohne daß dabei das Maß an Repression, welches dafür erforderlich ist, allzu deutlich wird. In Zeiten, wo es noch den Karzer und den Prügelstock gab, war dieser Aspekt etwas klarer sichtbar.

"Es ist richtig, daß in der Schule eine ganze Menge Faktoren vorhanden sind, die selbst Gewalt erzeugen. Dazu gehört z.B. der unwahrscheinlich geringe Anteil an Aktivitätspotentialen in der Schule. In der Schule sind die Kinder vorwiegend aufnehmende Wesen, nicht mithandelnde, mitgestaltende Wesen. Zum anderen gibt es in der SchuIe ja auch das ganze Problem der Gaus'schen Normalverteilung, nach der es Versager geben muß. D.h. die Schule produziert zwangsläufig Versager und diese Versager Stellen natürlich auch einen hohen Anteil der gewalttätigen Schüler dar."

(Prof. Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

Durch die einseitige Orientierung an der theoretischen Wissensvermittlung verhindert die Schule darüber hinaus die produktive Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Wirklichkeit. Selbige kommt im Unterricht nur noch vermittelt vor. Gleichzeitig soll sie aber auf das reale Leben vorbereiten. Auch hierdurch wird Unlust erzeugt, welche die Kinder ebenso wie ihre natürliche Neugier auf die 'lebendige Welt', unterdrücken müssen, wollen sie den Verbleib in der Schule gewährleisten.

Vom Zensuren- und Leistungsdruck wollen wir in diesem Zusammenhang erst gar nicht anfangen zu reden. Das haben bereits viele kritische Pädagogen in qualifizierter Weise getan.

"Wir haben an der Schule über die Fächer eine Wirklichkeitsvermittlung, die viel zu abstrakt ist. Da kommt die Realität in einer faßbaren, erlebbaren und ‚aufnahmefähigen' Gestalt gar nicht vor. Die Wirklichkeit taucht in Form von Physik, Chemie, Mathematik usw. auf, aber wo kommt denn die Wirklichkeit selbst vor? Ich verlange von der Schule, mehr Wirklichkeit in die Schule hineinzubringen!"

(Prof.Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)

Viele Fachleute weisen des weiteren daraufhin, daß an der Schule - nicht nur aus gewaltpräventiver Sicht - die Sozialerziehung einen größeren Raum einnehmen sollte. Dies würde bedeuten, daß auch Einsatz und Engagement für andere Schüler, für die Klasse und für Aspekte, die das soziale Miteinander in der Schule betreffen, gefördert werden müßten. Dadurch könnte man nicht nur das Schulklima freundlicher gestalten und altruistische Haltungen begünstigen sondern auch Schülern, die im kognitiven Bereich Probleme haben, Entwicklungsräume eröffnen, in denen sie sich z.B. durch Initiativfreude und Hilfsbereitschaft beweisen könnten, was u.a. ihre Lerndefizite kompensieren helfen würde.

Voraussetzung wäre allerdings, daß das Sozialverhalten überhaupt Eingang in das schulische Organisations- und Bewertungssystem findet. Wenngleich uns eine Benotung solcher Persönlichkeitsmerkmale bzw. solchen Verhaltens schwer vorstellbar ist.

Schul- und Erziehungsnot in Deutschland 

Wir wollen im Folgenden einige Kernthesen von Prof. Peter Struck vorstellen, die er in seinem Buch 'Schul- und Erziehungsnot in Deutschland' (Neuwied 1992) entwickelt hat und die wir im Hinblick auf notwendige schulreformerische Ansätze für bedeutsam halten:

Lehrer, die Schüler benoten, müssen sich auch ihre eigene Benotung gefallen lassen.

Für ihre Schüler engagierte bindungsbereite Lehrer sind für Kinder wichtiger als fachwissenschaftliche Kompetenz.

Schüler scheitern weniger an ihrer Intelligenz als an ihrem Verhalten.

"Die Schulen sind ja selbst gewalttätig. Das fängt beim System an. Ein System, das so stark selektiert, Schüler scheitern läßt, Rückläufer produziert, mit Fünfen arbeitet und Schüler ständig bestraft."

(Prof. Peter Struck in der TAZ vom 22.5.93)

"Überall, wo sie offenen Unterricht in der Grundschule machen, wo sie Integrationsklassen - also gemeinsames Lernen von Behinderten und nicht Behinderten - haben, wo sie mit Projektmethode in der Sekundarstufe I arbeiten, das Konzept volle Halbtagsschule, pädagogischer Mittagstisch oder Ganztagsschule haben, haben sie immer deutlich weniger Gewalt."

(Prof. Peter Struck in der TAZ vom 22.5.93)

Die erzieherische Macht des Lehrers besteht im Mögen des Schülers.

Lehrer sind durchweg fachdidaktisch über-, sozialpädagogisch aber unterqualifiziert.

Die freundschaftliche Bindung des Lehrers zum Schüler ist eine nichts zurückfordernde pädagogische Liebe, zu der die Merkmale Gerechtigkeit und Individualisierung gehören.

Ständig schlechte Noten begünstigen Schulversagen; Noten wirken sich meist nur positiv aus, wenn sie überwiegend gut sind.

Kinder dürfen bei Schwierigkeiten nicht auf viele Spezialisten aufgeteilt werden.

In einer zeitgemäßen Schule muß der Lehrer weniger Unterricht geben, um mehr Zeit für Erziehungsarbeit an den Gelenkstellen Schule und Familie sowie Schule und Stadtteil investieren zu können und um sich verstärkt einzelnen schwierigen Schülern im Sinne der Theorie des Schullebens zuwenden zu können.

Das dreigliedrige Schulsystem impliziert die Möglichkeit der 'Auslese nach unten' als Strukturmerkmal.

Schulen müssen auch nachmittags, abends, an den Wochenenden und in den Ferien kommunikative Zentren von Gemeinwesenarbeit sein.

Die gewaltige Zunahme an Einzelkindern, die mit einer alleinerziehenden berufstätigen Mutter aufgewachsen sind, zwingt zum Angebot von zumindestens einer Ganztagsschule in jedem Stadtteil.

Ein 10. Pflichtschuljahr für alle reduziert die Zahl der gescheiterten Ausbildungsverhältnisse.

Schullaufbahnprognosen nach Klasse 4 sind in zwei von drei Fällen falsch, nach Klasse 6 in einem von drei Fällen.

Trotz ihrer allzu starken Lehrplan- und Koordinationsanbindung haben die Gesamtschulen den großen Vorteil, daß sie für ein Schulleben besser ausgestattet sind als andere Schulen und daß sie nicht zuletzt auch wegen ihrer kompensatorischen Möglichkeiten für Spätentwickler und für Kinder mit soziokultureller Benachteiligung den Weg zum Realschulabschluß und zum Abitur sehr lange offenhalten.

Action, Power, Mucke, Lockerheit: 
Wie sehen Hauptschüler ihre Schule? 

Ergebnisse einer Fragebogenaktion, die wir unter Schülern einer Rahlstedter H9-Klasse durchgeführt haben.

In der letzten Woche vor den Sommerferien ('93) haben wir eine Rahlstedter H9-Klasse besucht, um sie über ihre Vorstellungen und Erfahrungen, die sie im Rahmen ihrer Schulzeit gesammelt haben, zu befragen. Zu diesem Zweck sind wir mit dem StraSo-Team in die Klasse gegangen, um unser Anliegen vorzustellen und um dann den Fragebogen ausfüllen zu lassen. Anschließend haben wir uns verschiedene schriftliche Antworten noch einmal im Gespräch erläutern lassen. Wir waren der Klasse im übrigen durch ein 5-tägiges H9-Seminar, welches wir gemeinsam mit dem Lehrer im Jugendheim Lichtensee durchgeführt hatten, bekannt. Wir möchten uns an dieser Stelle bei den Schülern und Schülerinnen der Klasse sowie dem Lehrer nochmals herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken. Auf die Nennung von Namen haben wir im folgenden Text aus verständlichen Gründen verzichtet.

Uns liegen insgesamt 24 ausgefüllte Fragebögen vor. Wir werden zunächst die jeweiligen Fragen sowie einige der prägnantesten Anworten vorstellen. Anschließend wollen wir die Vorstellungen und Vorschläge der SchülerInnen bewerten und auf ihre vielfältigen Konsequenzen hin untersuchen. Allerdings haben wir viele Aussagen auch unkommentiert gelassen, weil diese oft so eindeutig und klar sind, daß sie u.E. einer Erläuterung nicht bedürfen.

Welche Vorstellungen und Wünsche hattet Ihr früher, als Ihr noch Kinder wart, in Bezug auf die Schule?

Antwort 1:
Ich habe früher gedacht, daß die Schule Spaß bringt.

Antwort 2:
Ich wollte mehr spielen.

Antwort 3:
Ich konnte es kaum abwarten, in die Schule zu kommen. Ich fand Schule irgendwie toll, so erwachsen. Ich wollte tolle Zensuren kriegen, weil ich Tierärztin werden wollte.

Antwort 4:
Vorstellungen hatte ich eigentlich keine großen. Nur eins, daß ich jetzt langsam erwachsen werde und etwas mehr ernst genommen werde.

Antwort 5:
Ich hatte damals nicht gedacht, daß wir so früh aufstehen müssen.

Antwort 6:
Gute Zensuren, lustige Lehrer, viele Pausen.

Antwort 7:
Mehr Ferien, mehr Ausflüge, mehr Freizeit.

Mit welchen Augen seht Ihr die Schule heute? Wie ist Euer Urteil?

Antwort 1:
Ziemlich langweilig.

Antwort 2:
Man geht hin, weil man muß.

Antwort 3:
Die Schule ist und bleibt beschissen.

Antwort 4:
Ich finde Schule eigentlich gut. Aber ich möchte lieber arbeiten, weil man auf der Arbeit wenigstens für seine Leistung was bekommt. Das Gute an der Schule ist, daß man so viel Freizeit und Ferien hat.

Antwort 5:
ch fand die Schule eigentlich ganz gut, aber bin trotzdem froh, daß ich jetzt rauskomme. Wenn ich nochmal zur Schule gehen würde, würde ich mich mehr einsetzen.

Antwort 6:
Ich finde, daß man in diesen 9 Jahren sehr viel gelernt hat.

Antwort 7:
Gut und ich will länger dableiben.

Akzeptiert Ihr die Lehrer, nehmt Ihr sie ernst? Sind Lehrer menschliche Vorbilder?

Antwort 1:
Akzeptieren tue ich 3 bis 4 Lehrer, ernst nehmen tue ich sie nicht. Vorbilder sind sie für mich jedenfalls nicht.

Antwort 2:
Ich akzeptiere die Lehrer und nehme sie auch ernst. Für mich sind Lehrer menschliche Vorbilder.

Antwort 3:
Lehrer muß man akzeptieren, es sind ja auch nur Menschen. Ernst nehmen kann man nicht jeden Lehrer, weil sie sich nicht durchsetzen können. In einigen Sachen sind Lehrer gute Vorbilder, aber nicht immer.

Antwort 4:
Akzeptieren? Manchmal, nicht immer. Ernst nehmen? Nein und ja. Menschliche Vorbilder? Nein, weil sie so altmodisch sind.

Antwort 5:
Herr H. war ganz o.k.

Antwort 6:
Wenn ein Lehrer uns ernst nimmt, nehmen wir ihn auch ernst.

Antwort 7:
Ich akzeptiere die Lehrer und nehme sie halb ernst als Freund und Lehrer. Die Lehrer sind eigentlich menschliche Vorbilder, ja.

Fühlt, umgekehrt, Ihr Euch von den Lehrern menschlich ernst genommen?

Antwort 1:
Natürlich werden wir von den Lehrern ernst genommen.

Antwort 2:
Eigentlich schon, aber manchmal auch nicht.

Antwort 3:
Doch, ich denke schon, weil sie uns nicht nur als Schüler sehen.

Antwort 4:
Nein.

Antwort 5:
Ich fühle mich nicht ernstgenommen.

Antwort 6:
Es geht so.

Antwort 7:
Nicht immer.

Habt Ihr Vertrauen zu Lehrern? Würdet Ihr Euren persönlichen Ärger mit Ihnen bereden?

Antwort 1:
Nein.

Antwort 2:
Ja.

Antwort 3:
Schulbedingt ja, also Ärger mit Schülern. Private Dinge eigentlich nicht, das muß ja nicht jeden etwas angehen. Dann kann ich's ja gleich jedem erzählen.

Antwort 4:
Ich hab's noch nicht gemacht.

Antwort 5:
Nein, ich habe kein Vertrauen zu den Lehrern.

Antwort 6:
Ja, aber nicht mit jedem Lehrer.

Antwort 7:
Vertrauen schon, aber über persönlichen Ärger reden nicht.

Lernt man an der Schule für's Leben? Was meint Ihr dazu? Was haltet Ihr von der Hauptschule?

Antwort 1:
Ja, man lernt schon für's Leben. Und die Hauptschule ist gut, nur es wäre besser, wenn ich auf die Realschule gehen könnte, weil man hätte mehr Möglichkeiten.

Antwort 2:
Besser einen Hauptschulabschluß als gar keinen.

Antwort 3:
Auf dieser Schule lernst Du fast gar nichts und Hauptschule ist Mist.

Antwort 4:
Ich finde es gut, daß es so eine Hauptschule gibt, vor allem mit so einem Lehrer, wie Herr H.

Antwort 5:
Hauptschule ist scheiße, aber lernen tut man was.

Antwort 6:
Mit der Hauptschule hat man im Beruf nicht viel Auswahl.

Antwort 7:
Ja logisch, lernt man in der Schule für's Leben. Wenn es die Schule nicht geben würde, dann würde man nicht weit kommen im Leben.

Antwort 8:
Man lernt doch ziemlich viel. Hauptschule ist manchmal besser als Realschule.

Wie kommt Ihr mit dem Leistungsdruck klar? Was haltet Ihr von Zensuren und Noten?

Antwort 1:
Wir haben hier keinen Leistungsdruck und die Noten müssen sein, oder?

Antwort 2:
Der Leistungsdruck ist schwach. Zensuren sind blöd. Man kann keinen Menschen nach Zensuren beurteilen. Es wäre besser, wenn man eine schriftliche Beurteilung zum Abschluß bekommt.

Antwort 3:
Ich komme ganz gut klar damit.

Antwort 4:
Na ja, ohne Zensuren würde es wohl nicht so gut sein, weil wenn man sich irgendwo bewerben tut, dann wissen die ja nicht, wie man so ist.

Antwort 5:
Mit dem Druck komme ich ganz gut klar. Von Zensuren und Noten halte ich nichts.

Antwort 6:
Noten sind manchmal gerecht, manchmal nicht.

Antwort 7:
Ich stand nie unter Leistungsdruck. Ich. hab' immer das gemacht, was ich konnte. Die Zensuren wurden immer gerecht gegeben.

"Also, ich erlebe bei den Jugendlichen ganz oft, daß sie überhaupt nicht wissen, was sie wollen. Wenn sie aus der Schule kommen, haben die manchmal überhaupt keine Peilung, was sie jemals machen wollen oder sollen. Ich würd' das nicht unbedingt Zukunftsangst nennen sondern eher Hilflosigkeit, denn sie haben häufig keinen Einblick und keine Kenntnis über das, was sie vielleicht tun könnten."

Margrit Lubetzki, seit 13 Jahren Jugendsozialarbeiterin in der Kirchengemeinde Großlohe.

Wie kommen ausländische und deutsche Schülerlnnen miteinander klar?

Antwort 1:
Ich komme gut mit Ausländern klar.

Antwort 2:
Also, ich würde sagen, in unserer Klasse gibt es eigentlich keine Probleme damit. Ich weiß aber nicht, wie es in anderen Klassen ist. Ich kann mir vorstellen, daß es bei einigen sehr schlimm zugeht.

Antwort 3:
Sehr gut sogar. Ich hatte eigentlich noch nie Schwierigkeiten.

Antwort 4:
Eigentlich ganz gut, aber ab und zu gibt es Reibereien.

Antwort 5:
So wie deutsche mit deutschen (SchülerInnen).

Antwort 6:
Nicht so gut.

Antwort 7:
Ganz gut.

Sollte es nach Eurer Meinung die Ganztagsschule (vormittags: Lernen/ nachmittags: Freizeit) geben?

Antwort 1:
Meinetwegen, ich bin doch eh raus.

Antwort 2:
ch finde es so gut, außer daß der Nachmittagsunterricht weggelassen werden müßte.

Antwort 3:
Nein, nicht den ganzen Tag! Auf keinen Fall!

Antwart 4:
Ja, natürlich.

Antwort 5:
Ja, finde ich gut.

Antwort 6:
Nö!

Haltet Ihr Klassenfahrten für wichtig? Wenn ja, warum?

Antwort 1:
Man kann sich bei Klassenfahrten und Ausflügen besser kennenlernen und lernt auch noch was dabei (Schulunterricht).

Antwort 2:
Ja, auf Klassenfahrt muß die Klasse zusammenhalten.

Antwort 3:
Ja, weil das die Klasse richtig zusammenbringt und weil man Spaß hat.

Antwort 4:
Ja sehr, weil es wichtig ist für die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern.

Antwort 5:
Weil es auch mal was anderes ist und man kann sich mit den anderen Schülern besser kennenlernen, auch die man nicht so mag.

(Auf diese Frage gab es nur positive Antorten.)

Sollte es mehr Angebots oder Betreuung im Schulhofbereich geben?

Antwort 1:
Ja natürlich, viel mehr.

Antwort 2:
Ja, man sollte in der Pause mehr Möglichkeiten kriegen, irgendetwas zu machen.

Antwort 3:
Nein, es reicht.

Antwort 4:
Auf jeden Fall.

Antwort 5:
Mir egal.

Antwort 6:
Ja, es sollte mehr Angebote geben.

Wie würdest Du die Schule verändern, wenn Du zu sagen hättest?

Antwort 1:
Action, Power, Mucke, Lockerheit.

Antwort 2:
Was ich verändern würde? Daß wir mehr Auswahl bei den Kursen haben, mehr Auswahl in der Küche und Musik in der Aula. Mannschaften aufstellen in Sport. Unsere Schule ist sehr langweilig, es ist nichts los. Außerdem kein Nachmittagsunterricht und keine Frühstunden mehr.

Antwort 3:
Überhaupt nicht, ich würde sie abreißen lassen.

Antwort 4:
Mehr Möglichkeiten auf dem Schulhof, Musik in der Pausenhalle, kürzere Schulzeit, längere Pausen und sportliche Veranstaltungen.

Antwort 5:
Mehr Freizeit- und Spielmöglichkeiten und weniger Aufsichten.

Antwort 6:
Mehr Kurse. Mehr Sportverein, also Mannschaften, zum Beispiel Volleyball, Basketball und vieles andere mehr. Mehr aus den Klassenräumen machen (Renovieren). Auf dem Hof mehr Spielmöglichkeiten.

Antwort 7:
Es müßten mehr Veranstaltungen sein in der Schule. Mehr Auswahl beim Laden und mehr gesundes Essen. Musik muß in der Pausenhalle sein.

Antwort 8:
Ich würde mehr was für die Schule und die Schüler machen, damit es nicht so langweilig wird.

Antwort 9:
Mehr Kurswahlmöglichkeiten. Musik in der ganzen Schule. Sportklassen.

Die hier abgedruckten Antworten sind in aller Regel auch die ausführlichsten gewesen. Viele SchülerInnen haben oft nur mit Ja oder Nein geantwortet. Dennoch ist unseres Erachtens ein beachtliches Potential an Urteilsvermögen und kreativer Phantasie in diesen Beiträgen zu spüren.

Wir haben die Antworten nicht weiter nach bestimmten Merkmalen sortiert und zugeordnet, obwohl natürlich interessant zu wissen wäre, wie Mädchen oder beispielsweise ausländische SchülerInnen ihre Schulsituation sehen. Nur so viel scheint uns sicher: die Mädchen haben sich häufig intensiver mit den Fragen beschäftigt als die Jungen. Außerdem hat es den Anschein als ob die ausländischen SchülerInnen das Schulsystem insgesamt positiver beurteilen als viele deutsche. Solche Bewertungen sind allerdings sehr vage und müßten ggf. genauer untersucht werden.

Uns ging es ja in erster Linie auch um etwas anderes. Wir wollten herausfinden, wie diese H9-Klasse ihre erlebte Schulzeit im Rückblick beurteilt und wie sie die Hauptschule verändern oder verbessern würde, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte.

In dem Gespräch, welches wir nach dem Ausfüllen der Fragebögen mit der Klasse führten, wurde noch einmal deutlich, daß insbesondere die freizeit- und sportpädagogische Angebotspalette als äußerst mangelhaft empfunden wurde. Weitere Vorschläge wurden hier noch hinzugefügt: Band-, Theater- und Kochkurse.

Es wurde also auch durch die Antworten der SchülerInnen deutlich, daß die Schule ein erhebliches Erlebnisdefizit hat, welches für die häufig beklagte Langeweile mitverantwortlich ist. Deutlich wurde natürlich auch, daß ihre kreative Mitarbeit, ihre Vorschläge und Anregungen überhaupt nie abgefragt, geschweige denn realisiert wurden. Auch in diesem Zusammenhang werden die SchülerInnen viel zu wenig ernst genommen.

Die soziokulturelle Seite der Schule - und das gilt sicherlich besonders für den Hauptschulbereich - ist aus unserer Sicht völlig unterentwickelt. Und gerade auch hier gäbe es weitreichende Möglichkeiten für eine verantwortliche und demokratische Einbindung von SchülerInnen.

Erfreulich ist für uns, daß nicht wenige Teilnehmer der Fragebogenaktion sich immerhin ziemlich sicher sind, daß Schule mehr Spaß bringen könnte, wenn die da oben es nur wollten. Dabei hat uns die Konkretheit ihrer Vorschläge manchmal wirklich verblüfft.

Doch nicht nur, daß uns die Realisierung solcher Ideen gar nicht so schwierig erscheint, sie könnte auch ein positiver Beitrag zu jener Gewaltproblematik sein, die in letzter Zeit häufig mehr achselzuckend als optimistisch geführt wird. Für die Frage jedenfalls, wie jugendliche Lebensernergien weniger destruktiv und mehr konstruktiv im Rahmen sozialer und kultureller Aktivitäten ausgelebt werden könnten, scheinen uns die SchülerInnen selbst häufig die besten Antworten zu haben. Nur leider fragt sie keiner mit ehrlichem Interesse.

An den Antworten wurde auch deutlich, was Experten schon lange wissen, LehrerInnen sind im Durchschnitt zu alt. Sie sind u.a. auch deshalb keine menschlichen Vorbilder, weil sie oft zu 'altmodisch' sind und weil sie oft keinen Bezug mehr zu den jugendlichen Erlebnis- und Erfahrungswelten haben. Das fängt bei den musikalischen Hörgewohnheiten und Bekleidungsvorlieben an und hört bei den persönlichen Ansichten, Weltanschauungen oder Verhaltensritualen auf. Dabei ist es mit Sicherheit nicht so, daß ältere Lehrer keine bedeutsame Rolle für SchülerInnen übernehmen könnten, doch erstens müßten sie sich für jugendkulturelle Besonderheiten eine gewisse Sensibilität erhalten und außerdem müssen natürlich unbedingt auch junge Lehrer und Lehrerinnen an die Schulen, die schon aufgrund des geringeren Altersunterschiedes weniger Reserviertheit und Distanz erzeugen.

Das Urteil über die Hauptschule ist durchaus unterschiedlich ausgefallen, wie man unschwer erkennen kann. Dennoch scheinen sich viele bewußt zu sein, daß ein Hauptschulabschluß nur begrenzte berufliche Möglichkeiten eröffnet und somit ein höherer sozialer Status zunächst nicht zu erwarten ist.

Traurig kann es einen machen, wenn man die kindlichen Erwartungen der ersten Schuljahre solcher Desillusioniertheit gegenüberstellt. Das Fazit ist deshalb zulässig: Für viele ist Schule ein langsamer, aber systematischer Weg der Enttäuschung.

Man kriegt schon fast spröde Lippen, wenn man immer wieder auf die Notwendigkeit von freizeitpädagogischen Aktivitäten außerhalb des regulären Schulbetriebes, also Klassenfahrten und Ausflüge, hinweist. Alle richtigen Antworten auf die Frage, warum denn das so wichtig ist, haben die SchülerInnen im übrigen in ihren Antworten bereits gegeben. Klassenfahrten fördern:

1. den Zusammenhalt der Klasse im sozialpsychologischen Sinne.

2. die Attraktivität und den Erlebnischarakter von schulischem Lernen.

3. das Kennenlernen und die Integration von Außenseitern.

4. die Stabilität der Beziehung zwischen Lehrern und Schülern.

5. den Spaß und die Lust an der Schule.

Da bleibt eigentlich nur noch zu fragen, warum es Klassenfahrten immer seltener zu geben scheint und warum viele LehrerInnen hierzu offenbar immer weniger Lust verspüren. Zur Erklärung mag uns vielleicht ein Phänomen weiterhelfen, daß es nämlich auch bei vielen Lehrern ein Unbehagen an der Schule gibt, welches sich nicht selten in verschiedensten Leiden und Ängsten ausdrückt.

Natürlich wäre es wünschenswert und wichtig, daß dieses Unbehagen sich deutlicher und engagierter artikuliert, damit wir in dieser Stadt und in diesem Land endlich zu einer folgenreichen Diskussion zum Thema 'Schulreform' kommen, die hilft, den Kindern und Jugendlichen eine bessere Schule zu bescheren. Dafür ist es aber notwendig, daß Schulpolitiker, Pädagogen und Eltern auch das Unbehagen, welches die Kinder an der Schule haben, überhaupt wahrnehmen.

"Das Unbehagen an den Verhältnissen in der Schule ist in den Lehrerkollegien unterschiedlich groß. Dort, wo es sehr groß ist, gibt es auch die Eigeninitiative von Lehrkörpern; ich spreche immer von der Schulreform, die jetzt von unten her im Gange ist. Der offene Unterricht in den Grundschulen - zum Beispiel - ist von den Grundschullehrern selbst in Gang gebracht worden."

(Prof. Dr. Walter Bärsch; Gespräch vom 9.6.93)